„Zugang zu Wissen ist das Entscheidende“ sagt Mercedes Bunz, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, in einem Interview mit carta.info.
Ihre These: Wissen und Informationen liegt in rauen Mengen vor. Es ist für Menschen nicht mehr durchlesbar, insofern übernehmen Technologie und Algorithmen in Zukunft eine wichtige Funktion bei der Sammlung und Aufbereitung. Noch wichtiger aber sei es, dass dieses Wissen kontrolliert, gefiltert und zugänglich gemacht wird. So gesehen ist nicht mehr Wissen die Macht, sondern der Zugang zu Wissen. Wissen werde erst in dem Moment abgerufen, in dem man an einer bestimmten Aufgabe arbeitet. Öffentlicher Zugang im Sinne der Open Access Bewegung sei folgedessen erforderlich.
Spinnt man diesen Gedanken weiter und bezieht ihn auf Wissen, das für das Marketing und dessen Multi-Science-Ansatz, relevant ist, dann ist das Problem des Wissenszugangs alleine nicht die Lösung. Denn welcher Marketer oder interessierte Akteur hat die Zeit und das Grundlagenwissen um effektiv und effizient in dem Moment zu recherchieren, in dem er substanzielles und relevantes Anwendungswissen benötigt? Und es sind ja nicht alleine die Datenmengen, es sind Dynamik und Zinseszins-Effekte des Wissens, die eine nicht mehr bewältigbare Komplexität entwickeln. Nimmt man alleine die Anzahl an wissenschaftlichen Journals in der Kategorie Neuroscience der Wikipedia, dann ist das für Cutting-Edge-Manager nicht überschaubar. Gleiches gilt für Bücher, Blogs oder Fachzeitschriften der populäreren Art. Gerade aber die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren entscheidende neue Ansätze für das Verständnis für Markenführung, Kommunikationsverarbeitung oder Customer Relations geschaffen. Märkte bestehen schließlich aus Menschen und Gesprächen.
Mercedes Bunz hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben: „Die stille Revolution“ (Suhrkamp Verlag, 2012). Darin definiert sie den Experten als einen Typus, „der einen Überblick über einen Sonderwissensbereich hat, der also weiß, was die jeweiligen Spezialisten auf dem von ihm vertretenen ‚Wissensgebiet‘ wissen.“ Spezialisten haben gegenüber den Experten nur ein abgegrenztes Teilwissen innerhalb eines Sonderwissensbereichs. Ihre These lautet: Dieses Überblickswissen des Experten lässt sich zum Teil automatisieren.
Meine Antithese lautet: Wenn überhaupt, dann wird das noch lange dauern. Zwar arbeiten einige innovative Start-ups – zumeist Spin-offs wissenschaftlicher Einrichtungen – an sogenannten ‚Neuronalen Netzen‘ zur Automatisierung relevanten Wissens für die praktische Marketinganwendung, jedoch sind die Einsatzgebiete schmal abgegrenzt. Heutige Fach- und Führungskräfte werden anwendungsreife Technologie nicht mehr erleben – auch wenn sie noch 30 Jahre bis zum Ruhestand haben. Ich habe Anfang der 1990-er Jahre selber ein derartiges, auf Algorithmen basierendes Softwaresystem entwickelt. Wenn ich 20 Jahre zurückblicke, ist in diesem Bereich der Marketing-Automation nichts Wesentliches passiert – von Eye-Tracking-Systemen einmal abgesehen.
Aber das Problem im Marketing bleibt: Wie kommt der Praktiker an relevantes und zukunftsrobustes Anwendungswissen? Wie können seine Zeit- und Ortsbeschränkungen Berücksichtigung finden? Und vor allem: Wie wird aus Maschinenalgorithmen eine Handlung? Wissensverarbeitung durch Algorithmen ist lediglich kognitiv verarbeitbar. So führt es nur zu Schlussfolgerungen, aber nicht zu einem Handlungsantrieb, weil die Emotionen fehlen.
Die Fachzeitschrift „absatzwirtschaft“ hat ihre Septemberausgabe 2013 unter den Titel „Auf dem Gipfel des Wissens?“ gestellt. Tenor: Die Marketingwissenschaften werden noch interdisziplinärer mit einer hohen Anzahl an Fachspezialisten. Diese kümmern sich allerdings zu wenig um die Praktikabilität, weil der Wissenschaftsbetrieb zu selbstreferentiell ist und reine Theorie. Der Beratungskonzern Accenture stellt in seiner Studie CMO Insights Suvey 2012 fest: „Nearly four in 10 CMOs say they do not have the right people, tools and resources to meet their marketing objectives.“ Ihr Rat an die Marketingentscheider lautet dann auch, entsprechende Fähigkeiten aufzubauen.
Und was machen die Praktiker unter diesen Bedingungen? Sie orientieren sich an anderen erfolgreichen Praktikern, wie Steve Jobs oder Helmut Maucher von Nestlé. Damit aber laufen sie nur auf den ausgetrampelten Pfaden, die andere erschaffen haben. Das wird die Marken und Unternehmen nicht vor einer düsteren Zukunft vor dem Hintergrund des globalen Wettbewerbs bewahren. Das erinnert dann eher an die veraltete Fußball-Taktik Kick-and-Rush.
Fazit: Marketers sollten sich an Spitzensportlern orientieren. Diese beschäftigen Coaches, Strategen und Physiotherapeuten, um sich das notwendige Know-how anzueignen und für den nächsten Wettkampf gerüstet zu sein. Und ja, Trainer werden ausgetauscht, um neue Impulse zu bekommen. Das nächste Spiel ist bekanntlich immer das Schwerste.